Moringer Geschichte(n) - Moringer Familien

Das "Wagemannsche Haus"

Artikel in der "Moringer Zeitung" v. 12. 10. 66
Wenn ein Haus erzählen könnte ...
Ein Pfarrhaus, in dem Wissenschaft, Kunst
und Geselligkeit gepflegt wurden

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wirkte auf der 1. Pfarrstelle der Stadtkirche zu Moringen der Pastor Dr. Ferdinand Wagemann. Er muß hier fast 40 Jahre seines Amtes gewaltet haben. An ihn und seine Familie erinnert heute noch das "Wagemannsche Haus" an der Hagenbergstraße, Ecke Grabengasse, das sich das Pastorenehepaar in den 80er Jahren erbaute und dazu noch angrenzende Gartengrundstücke von den Einwohnern Brandhorst und Dörger erwarb.

Pastor Dr. Wagemann kam mit Frau und dem ersten Töchterchen Anna sehr wahrscheinlich im Jahre 1856 von Winsen a. d. Luhe nach Moringen. Hier wurden dem Ehepaar, das zuerst in einem der Pfarrhäuser in der Kirchstraße wohnte, noch fünf Kinder geboren, drei Söhne und zwei Töchter. Wie alte Moringer noch erzählen, führten Pastor Wagemanns ein gastliches Haus. Musik, Kunst und Wissenschaft wurden gepflegt, junge Pensionärinnen zur Vervollkommnung ihrer Bildung aufgenommen. Unter diesen befanden sich, dank guter internationaler Beziehungen, auch Ausländerinnen, vornehmlich aus England. Denn ein Bruder Frau Wagemanns hatte eine Engländerin aus besten Kreisen geheiratet und wohnte in Sydenham. Pastor Wagemann und Frau sprachen fließend französisch und englisch, die Kinder wurden vom Vater zudem in Latein und Griechisch unterrichtet.

Über ein halbes Jahrhundert ist seit jenen Jahren vergangen, und nur noch unsere Ältesten können sich noch an den alten Geistlichen erinnern. Er soll ein recht temperamentvoller Prediger gewesen sein. Ein alter Moringer kann eine Sonntagspredigt nicht vergessen, die er als Schuljunge auf dem Chor anhörte. Vom Inhalt der Predigt weiß er weniger, aber daß bei dem lebhaften Gestikulieren des Pastors Wagemann plötzlich die Bibel von der Kanzel flog, sehe er noch wie heute vor sich. Auch daß der Küster Cleve herzueilte, die Bibel aufhob und nach oben trug. Als er sie aber dem Pastor auf der Kanzel zureichen wollte, habe der unwillig abgewehrt.

Was wir von Zeitgenossen nicht mehr über die Familie Wagemann erfahren können, das verrät uns ein Buch, das die älteste Pastorentochter Anna geschrieben hat. Als Erzieherin hat Anna Wagemann an Fürstenhöfen gewirkt und die Schwester der letzten deutschen Kaiserin, die Prinzessin Feodora von Schleswig-Holstein unterrichtet. Sie schreibt in ihren Erinnerungen, daß sich ihre großzügigen Eltern trotz der vielen Jahre in Moringen hier nie recht wohlgefühlt hätten. Anders die Pastorenkinder. "Pastors Anna" selbst hat Moringen geliebt und nur den Wunsch gehabt, einmal als Gemeindeschwester hier bis an ihr Lebensende bleiben zu können. Aber das Schicksal hat sie dann weit in der Welt herumgeführt.

Trotz ihrer wilden Spiele, von denen die Pastorenkinder zum Entsetzen der Mutter abends mit wirren Haaren, zerrissenen Kleidern und oft blutigen Schrammen nach Hause kamen, wurden sie sorgfältig erogen und unterrichtet. Die Mädchen lernten bei ihrer Mutter sogar den großen Hofknicks, da sie meinte, man könnte nie wissen ... Von ihrem Vater schreibt die Verfasserin, daß er sehr musikalisch war, aber geduldig am Klavier saß und Walzer spielte, wenn die Jugend gern einmal tanzen wollte. Die Töchter mußten aber auch den Vater auf den seelsorgerlichen Krankenbesuchen begleiten, sich in den Krankenstuben betätigen, Kranke verpflegen und Verständnis für die Sozialarbeit lernen.

Der Sohn Paul wurde Seeoffizier. Wenn er auf Urlaub kam, versammelte sich abends in der Grabengasse die Jugend und hörte begeistert seinen Seemannsgeschichten zu. Er ist als Kapitän am 27. Dezember 1908 auf einer Fahrt von Hongkong nach Moji gestorben. Der Sohn Kurt wurde Kaufmann, zuerst in London, später blieb er in New York, wo seine Schwester Anna länger bei ihm weilte.

Pastor Dr. Wagemann hat bis in seine 70er Jahre hinein hier an der Stadtkirche amtiert. Er hielt im September 1896, also vor genau 70 Jahren seine Abschiedspredigt. Er blieb natürlich in seinem sonnigen Haus an der stillen Hagenbergstraße wohnen. Am 5. Oktober 1899 ist er in Hannover-Kirchrode einem Schlaganfall erlegen, nachdem er, wie seine Tochter schreibt, "bis zu seinem 75. Jahr nie einen Tag im Bett gewesen war und bis zuletzt weder Kopfweh noch sonstige Schmerzen kannte, auch an keinem Zahn ein Fleckchen hatte". Ob er in Hannover-Kirchrode gerade zu Besuch weilte? Frau Wagemann muß jedenfalls noch einige Jahre das Haus in der Hagenbergstraße bewohnt haben. Denn Anna Wagemann, die unverheiratet blieb, schreibt, daß sie eine Reihe von Jahren mit ihrer Mutter die Winter über in Wiesbaden weilte, und "im Sommer lebten Mutter und ich in Moringen". Fau Ida Wagemann, geb. Haße, ist dann am 14. Oktober 1912 in Braunschweig gestorben.

Die Erben Hagemann verkauften 1919 das Haus, heute Hagenbergstr. 7, an den Provinzial-Verband Hannover, und es wurde von Beamten des damaligen Landeswerkhauses bezogen. Noch heute wird es von Beamten der Anstalt, des heutigen Niedersächsischen Landeskrankenhauses, bewohnt.

Wenig verrät das Haus, was einst in ländlicher Umgebung für ein weltoffener Geist und gepflegter Lebensstil darin herrschte, gepaart mit dem Bewußtsein christlicher Verantwortlichkeit, wie die Erinnerungen der Moringer Pastorentochter erkennen lassen.


Nachtrag:
In ihrem Buch "Prinzessin Feodora - Erinnerungen an den Augustenburger und den Preußischen Hof", Verlag Martin Warneck, Berlin, beschreibt Anna Wagemann auf Seite 8 ihre Erinnerungen an den Umzug der Familie nach Moringen:
"Meinem Vater wurde der Abschied von seinen treuherzigen, kindlich frommen Heidjern sehr schwer. Die neue Pfarre befand sich in Moringen i. Solling, in schöner Gegend und war gut dotiert, aber die Gemeinde war sehr, sehr schwierig und hat meinem guten Vater viel Kummer gemacht. In Moringen wurden den Eltern, meist in größeren Abständen, noch fünf Kinder geboren, drei Söhne und zwei Töchter. Es war eine richtige Kleinstadt, und meine großzügigen Eltern haben sich trotz der langen Jahre, die sie dort lebten, nie recht wohl darin gefühlt. Mir gefiel sie gut. Es war kein Mensch in dem ganzen Ort, den ich nicht kannte, und es gab wohl wenige, die 'Pastors Anna' oder auch 'Fräulein Pastor', wie später einige mich nannten, nicht gekannt hätten." ...

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