Moringer Geschichte(n) - Moringer FamilienSpurensuche: Juden in Moringen
In Moringen habe ich in den 50er Jahren meine Kindheit verlebt. Dabei gehörte der „Judenfriedhof“ im Hagenberg genauso zum Alltag wie der „Judentempel“ am Schneehof, wo Familie M. mit den vielen Kindern lebte. Erst später, Ende der 60er Jahre, kurz vor dem Abitur, habe ich mich mit dem Judentum näher befasst, war auch in Hannover in der Synagoge und erinnerte mich irgendwann: In Moringen hat es doch auch Juden gegeben! - Jetzt nicht mehr!? - Wo sind die Familien geblieben? - Welche Häuser gehörten ihnen? - Hat der Massenmord an den deutschen und europäischen Juden auch unter den Moringer Familien Opfer gefordert?
Die "Nazi-Zeit" in Moringen war für ihn nie ein Thema, über das ich mit ihm reden konnte, schon gar nicht um den 05. Juli herum, dem Tag, an dem er im Flüchtlingslager Friedland entlassen worden war und an dem seine traumatischen Erlebnisse jährlich "hochkamen" (wie er es ausdrückte) und an dem er für niemanden ansprechbar war. Zu sehr hatte er gelitten, nachdem er als Jugendlicher, fast noch ein Kind, zum Arbeitsdienst und danach in die Wehrmacht eingezogen wurde, am Ende des Krieges bei Cham in der Oberpfalz auf dem "Heimmarsch" von Amerikanischen Streitkräften aufgegriffen und in russische Kriegsgefangenschaft ausgeliefert wurde. Nach mehr als vier Jahren Leben und Qual in russischen Bergwerken traf er am 07. Juli 1948, körperlich ein Wrack, als Spätheimkehrer wieder in Moringen ein. 07. Juli 1948: Ein ganz besonderer Tag! - Seine Rückkehr und seines Vaters Geburtstag! Er wollte ihn mit dem größten Geschenk, nämlich der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft, überraschen. Doch sein Vater lebte nicht mehr...
Lassen Sie mich mit Situationsbeschreibungen von Hermann Boesch (s. Quellen-hinweise, S. 136 ff) beginnen, der als Zeitzeuge, Freund und Nachbar Moringer Juden erlebt hat: "1926 und in den folgenden Jahren lebten die Moringer Juden ... gleichberechtigt und gleichgeachtet als Bürger unter Bürgern." "Die Eigenarten ihres religiösen Brauchtums zählten zu den Erscheinungen, an die man sich mit dem Heranwachsen seit Kindesbeinen gewöhnt hatte, ob sie nun am Freitagabend mit schwarzen Hüten zu ihrer kleinen Synagoge hinterm Schneehof zogen, am Sonnabend entgegen ihrer sonst üblichen Geschäftigkeit untätig in der Haustür standen oder auf ihren trockenen Matzen herumkauten." "Mein Nachhilfeunterricht spielte sich im Falk’schen Wohnzimmer ab, welches sich in nichts von anderen kleinbürgerlichen sogenannten 'guten Stuben' unterschied, abgesehen von dem siebenarmigen Leuchter, der Menora." "So freundlich und aufmerksam wie vor allem Frau Falk sich mir gegenüber verhielt, so war auch der allgemeine Umgangston im nachbarlichen Verkehr, unbefangen half man sich gegenseitig, wann immer es sich anbot." Wichtig ist für mich auch Boeschs Feststellung: "Niemals konnte dieses normale Neben- und Miteinander ein Nährboden für Antisemitismus sein, ist es auch nicht gewesen."
Im Januar 1977 schreibt Wilhelm Steinhoff: Die Synagoge, von den Moringern "Judentempel" genannt, hieß bei den Juden "das Haus". 1915 war Moritz Waller Rabbiner in der Moringer Synagoge. Er war auch "mein" Klassenlehrer (lt. Moringer Chronik zum 1.1.1921 als Lehrer an der Volksschule angestellt, nachdem die im selben Schulhaus untergebrachte jüdische Elementarklasse aufgelöst worden war). Tochter und Frau sind schon früh (keine weitere Zeitangabe) weggezogen.
Bereits vor 1887 (Testamentseröffnung: 7.3.1887 vor dem Königlichen Amtsgericht zu Moringen) war der Bankier Jonas Loeb verstorben. Er betrieb sein Bankinstitut in der Langen Straße 38. Diese Loeb’sche Privatbank war der örtliche Vorgänger der Stadtsparkasse Moringen und das älteste Bankinstitut im Altkreis Northeim. Loeb gehörte zu den bedeutendsten Persönlichkeiten Moringens. Als sozial denkender und handelnder Mensch hatte er der Stadt Moringen eine Stiftung vermacht mit der Auflage, später von dem Kapital und den sich aufsummierenden Zinsen ein Altersheim zu bauen. Leider wurde daraus nichts, denn das Stiftungsvermögen fiel der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg und der Währungsreform von 1923 zum Opfer ... Später kam sein Haus Lange Straße 38 an seinem Nachfolger Julius Löwenthal, gelangte danach über mindestens eine weitere Station an den Uhrmacher Hermann Huth, dessen Tochter dort auch heute noch ein Geschäft für optische Geräte, Schmuck und Uhren führt. Der bereits oben erwähnte Julius Löwenthal war Produktenhändler, später Bankier. Er wohnte in der Langen Straße 33, dem späteren EDEKA-Geschäft Fischer. Das Löbsche und das Löwenthalsche Haus wurden um 1900 verkauft. Bis 1936/37 betrieb in der Langen Str. 25 der Manufakturwarenhändler Hugo David mit seiner Familie ein Textilgeschäft, das er von seinem Vater Jacob David übernommen hatte. Davids sollen bereits vor 1938 mit unbekanntem Ziel ausgewandert sein. Später gehörte das Haus zuerst dem Friseur Göbel, danach Friseur Teuscher, jetzt befindet sich dort der "Salon Angelika". Im Haus Lange Str. 13 und Schneehof Nr. 3, später Textilgeschäft Knepel, danach Höhne und heute Knoop war die Manufakturwaren- und Getreidehandlung von Hermann Jacobs. Drei Söhne gehörten (nach Aufzeichnungen Steinhoffs) zu der Familie: Adolf, Julius und Alfred. Die / eine Tochter hatte einen Handwerker, einen Hammerschmied, geheiratet. Alfred Jacobs, gut situierter Kaufmann und einer der drei Söhne, betrieb in der Langen Str. 11 (Ecke Schneehof) einen Produktenhandel. Er handelte u. a. auch mit Fellen. In seinem Geschäft arbeitete auch ein "Ahlborn", der mit einem Sack als Lumpensammler von Haus zu Haus zog. Überliefert ist der Spruch, mit dem er stets auf Leute zuging: "Hem’ je Lumpen?" Alfred Jacobs starb bereits vor 1933. Seine Söhne Paul und Erich führten den Handel mit Textilien, Fellen und Futtermitteln fort. Beide wollten nach Israel auswandern. Erich soll es aber nicht geschafft haben. Nach Angaben meines Vaters soll er in Holland vom Blitz erschlagen worden sein. Die Witwe Alfred Jacobs, Lotte Jacobs soll in der Gaskammer umgebracht worden sein ... (schreibt mein Vater) Im Haus davor, in der Langen Straße 9 wohnten die Brüder Julius und Albert Falk. Später kam dieses Haus an die Volksbank; heute befindet sich dort ein Türkisches Restaurant mit Straßenverkauf. Beide Falk-Brüder handelten ebenfalls mit Manufakturwaren. Wilhelm Steinhoff berichtet, er und sein Vater hätten für Julius Falk den Sarg hergestellt. Beim Einsargen und Schließen des Sarges durften sie aber als Christen nicht dabei sein. Später zog Albert aus Moringen fort in ein Senioren- bzw. Altersheim. Ein weiterer Bruder war der Viehhändler Bernhard Falk in der Wasserstraße 15. Das Haus kaufte später Gustav Brauns, heute gehört es Familie Starkebaum. Von meinem Großvater, einem alten Weperbauern, weiß ich noch, dass Berhard Falk auf den Dörfern sehr beliebt war, aber auch ziemlich ängstlich gewesen sein muss. Wenn er von Nienhagen über die Weper und durch den Wald nach Moringen ging, hat er immer laut gegen seine eigene Angst angesungen: "Dort oben auf dem Berge, da steht eine Kuh-h-h-h", was die Nienhagener sehr amüsiert hat ... Boesch beschreibt Bernhard Falk (S. 135) wie folgt: "Vater Falk war ein kleiner Viehhändler, der mit seinem dürftigen Einspänner den ganzen Tag über die Dörfer fuhr, ein schwerfälliger Mann, der beim Grüßen kaum die Augen anhob, aber immer höflich die Mütze abnahm. Seine Kinder sollten es einmal besser haben als er, der bei den Bauern zwar wohlgelitten war, aber sein bescheidenes Geschäft eben doch nur mit unermüdlichem Fleiß und verbissener Sparsamkeit durch die schweren Jahre bringen konnte." Bei den Falks handelte es sich um diejenige jüdische Familie, "die am längsten in Moringen blieb und erst 1939 auswanderte, nachdem nationalsozialistische Rowdys ihr in der sogenannten 'Kristallnacht' die Fensterscheiben eingeschlagen und sie selbst mit unflätigem Gebrüll in Angst und Schrecken versetzt hatte". (Boesch, S. 135) Die Familie hatte "... nach übelsten Pressionen dann in letzter Minute erst doch noch nach Amerika" auswandern können. (Boesch, S. 228) "Nach 1945 hat Georg Falk als amerikanischer Captain seine alte Heimat Moringen aufgesucht und mit den Peinigern seiner Familie abrechnen können; davon später mehr." (Boesch, S. 228) Steinhoff schreibt dazu: Vor / in / nach der "Reichskristallnacht" im November 1938 haben Bernhard Falk, seine Frau Sarah und die Kinder Hannah und Hans-Georg als letzte Moringer Juden ihren Heimatort verlassen, sich nach Hamburg abgesetzt und sind später in die USA ausgewandert. Wörtlich bei Steinhoff: "Falk, seine Frau Sarah u. Kinder Hannah u. Georg sind der Kristallnacht nach Hamburg verzogen, dann Amerika."
Hans-Georg Falk wohnt in New York, kam als Amerikanischer Offizier nach Moringen und hat dafür gesorgt, dass der Judenfriedhof wieder in Stand gesetzt wurde (vermerkte Steinhoff 1977). In der Moringer Chronik von 1983 mit der Quellenangabe "Magistratsarchiv" finden wir eine etwas andere Version: Hans-Georg Falk wanderte vor 1938 nach Amerika aus und ging dort in die U.S.-Army. Die Eltern verkauften bald nach der Auswanderung ihres Sohnes ihr Moringer Haus, verluden ihr Mobiliar auf Pferdewagen, mit denen sie nach Hamburg abfuhren. Wohin sie auswanderten ist nicht bekannt.
Eine weitere Manufakturwaren-, Getreide- und Futtermittelhandlung befand sich in der Langen Straße 6 und 8, Ecke Scheunenstraße. Besitzer der beiden Häuser waren die Brüder Oskar und Arno Jacobs und dessen Schwiegersohn Stern. 1917 erwarb die Häuser der Kaufmann Mackensen. (lt. Steinhoff) In der Moringer Chronik heißt es dagegen, dass in der Langen Straße 6 Oskar Jacobs zusammen mit seinem Schwager Stern und seiner Frau Lucie ein Textilgeschäft und zugleich einen Getreide- und Düngemittelhandel betrieben haben, mit dem sie 1919 in Konkurs gingen. Oskar Jacobs zog nach Northeim und ist dort auch gestorben. Ein drittes Haus gehörte der Familie ebenfalls: Neue Straße 10, (vormals Rothschild, der vor 1905 in das kleinere Haus Nr. 7 auf der gegenüberliegenden Straßenseite gezogen ist). Später, wahrscheinlich nach dem Konkurs, wurde August Schoppe der Eigentümer des Hauses Neue Str. 10. 1938 wohnten außerdem in Moringen noch Willi Rothschild mit Frau und Mutter. Der bereits verstorbene Vater war der Fellhändler Louis Rothschild. Sein Sohn Willi arbeitete "an der Straße" und war der einzige Moringer Jude, der seinen Lebensunterhalt nicht mit Handel, sondern mit "seiner Hände Arbeit" verdiente. Die Familie wohnte in dem Haus "Neue Straße 7", das dem Werkhausaufseher Fischer gehörte. Im Haus „Lange Straße“ 15 betrieben der Kaufmann Hermann Meyerstein und seine Frau eine Manufakturwarenhandlung, d. h. ein Textilwarengeschäft. Sie lebten (lt. Boesch) nicht gerade üppig vom Verkauf von Aussteuerwäsche. Meyerstein war ehrenamtlicher Vorsteher der Synagogengemeinde. In dieser Funktion leitete er auch die Gottesdienste (und wurde deshalb - allerdings unzutreffend - in einigen Berichten als "Rabbiner" bezeichnet), nachdem kein jüdischer Lehrer mehr in Moringen vorhanden war. Mit ihm endete die über 200-jährige Geschichte jüdischen Lebens in Moringen.
Meyerstein verkaufte am 26.01.1939 sein Haus an den Drogisten Bruno Siebert und zog mit seiner Frau nach Hannover in ein Jüdisches Altenheim. Von dort wurden sie im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er selbst schon im folgenden Monat und seine Frau anderthalb Jahre später starb. Sowohl bei Boesch wie auch bei meinem Vater findet sich der Hinweis auf Meyersteins Stieftochter Gerda. Im Augenblick lässt sich nicht klären, ob es sich dabei um eine Tochter aus einer vorherigen Ehe von Frau Meierstein handelt oder (wahrscheinlicher) um die 1910 geborene (Stief?-)Tochter Gerda des in Bremke ansässigen Schlachters Hermann Meyerstein (Sohn eines Vetters des Moringer Kaufmanns), die sich vorübergehend in Moringen aufgehalten hat, bevor sie - ebenso wie ihr Vater - emigierte. Diese Gerda Meyerstein starb 1978 in den USA. (Quelle: Eike Dietert) Heute befinden sich in dem Haus "Lange Straße 15" die Verkaufsräume der Blumenhandlung Seel. Zur Synagoge ist noch zu sagen, dass Meyerstein diese in seiner Funktion als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde an den Schäfer Schrader verkaufte. Der Verkaufspreis soll angemessen gewesen sein, d. h. er orientierte sich an dem ortsüblichen Häuserpreis. Durch den Verkauf blieb die Synagoge von Übergriffen in der Pogromnacht verschont. Zur Pogromnacht finden sich bei meinem Vater folgende Anmerkungen: Auch in Moringen fanden sich fanatische Bürger aus der SA und SS "bereit, den Juden die Häuser zu demolieren und zu plündern." Dazu gehörten nach seinen Aufzeichnungen Albert L., Otto A., Friedrich G., Rudolf Z., Heinrich H. und "Prinz" A. ... In der Chronik auf Seite 249 heißt es zur "Reichskristallnacht" abwiegelnd: "... Es kann nicht möglich sein, daß sich viele Bürger der Stadt daran beteiligten."
Mit dem Nennen der Namen habe ich mich sehr schwer getan und mich auch zu der (teilweisen) Preisgabe erst durchgerungen, nachdem ich bei Boesch Hinweise auf denselben Personenkreis gefunden habe (S. 266 ff): Zu den ersten Sympathisanten der NSDAP gehörten aus Boeschs Nachbarschaft "der Tischlergeselle Albert und der Bäckergeselle Otto, die beide arbeitslos aus Hannover bzw. Göttingen" nach Moringen "zurückgekommen waren". "Dazu gesellte sich mein Sportkamerad Friedrich, ein Handwerkersohn, ..." "Die beiden besten Turner waren auch dabei: der junge Schuhmachermeister Rudolf, ehemaliger Frontsoldat ... und Heinrich, Angestellter in der Verwaltung des Werkhauses ..." sowie "ein junger Bauer mit dem Spitznamen 'Prinz', Stiefsohn eines Ackerbürgers, ..." An anderer Stelle (S. 479; es geht um das Jahr 1933) wird derselbe Personenkreis wie folgt charakterisiert: "Mit dem albernen 'Heil Hitler' grüßten hier nach wie vor nur die paar stadtbekannten Wichtigtuer." "Die Witwe Alfred Jakobs, Lotte Jacobs soll in der Gaskammer umgebracht worden sein ..." schreibt mein Vater 1987. "Die letzten, die hier noch lebten, sollen später vergast worden sein!" schreibt Steinhoff 1977. "Mit dieser Auswandererwelle verschwanden auch die letzten Juden aus Moringen" schreibt Ohlmer 1983 (Chronik S. 250).
© Wilfried Hartje März 2004 Ganz herzlichen Dank sage ich Herrn Eike Dietert für Überarbeitung: |
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