Moringer Geschichte(n) - Moringer Familien

An der Waisenmauer

Artikel in der "Moringer Zeitung" v. 21. 10. 67:

An der Waisenmauer

Viele Wandlungen im Laufe der Zeit

M o r i n g e n - Der Straßenname "An der Waisenmauer" ist das einzige, was hier heute noch daran erinnert, daß das jetzige Landeskrankenhaus anfangs ein Waisenhaus war. Auf unserem Bild, einem nicht jedem zugänglichen Idyll, ist noch ein Stück der Mauer zu sehen, die an der Kapelle das Grundstück abschließt und dann bis zum Seiteneingang in West-Ost-Richtung verläuft.

Über das Waisenhaus schreibt Domeier in seiner Moringer Stadtchronik: "Das allhier vorhandene Waysenhaus anlangend, so ist solches, vermöge Landtags-Schlußes vom Jahre 1732, zum Besten des Fürstentums Calenberg, welches bekanntlich das Hannöversche, Göttingsche und Hamelnsche Quartier in sich faßet, auf landschaftliche Kosten erbauet und angeleget worden. Mit dem wirklichen Bau aber hat man allererst im Jahre 1738 angefangen, und solchen 1745 vollendet.

So wohl das Haupt- als auch die zur Haushaltung dienende Neben-Gebäude sind sämtlich von Mauerwerk auf das dauerhafteste, bequemste und regelmäßigste angeleget, so daß dieses unter die besten Waysenhäuser Deutschlands mit Recht gezählet werden kann. Deßen erste Besetzung geschahe um Ostern 1746 durch eine Anzahl von 42 Kindern, welche um Ostern 1749 um 21 vermehret worden, bey welcher Zahl von 63 Kindern es bishero geblieben ist. Dem Hause ist ein Verwalter vorgesetzet, und die Kinder werden im Christenthum, Schreiben und Rechnen, durch einen dazu bestellten Informator unterrichtet, welcher über dieselben, zugleich als Waysen-Vater, genaue Aufsicht führet."

1798 wurde das Waisenhaus geräumt, weil in den Gebäuden eine Zuckerfabrik eingerichtet werden sollte. Das Projekt kam aber nicht zur Ausführung, und das Waisenhaus blieb bis 1818, dann wurden die Gebäude anderen Zwecken zugeführt, über eine Korrigendenanstalt, Altersheim, Fürsorgeheim gab es vielerlei Strukturwandlungen bis zum heutigen Niedersächsischen Landeskrankenhaus.

Die Kapelle, die mit ihrem Kreuz auf dem Giebel und dem hübschen Rund- und dem Spitzbogenfenster zwischen den sie umgebenden Bäumen auf unserem Bild solch malerischen Anblick bietet, ist 1880 erbaut. Zwei Anstaltsgeistliche haben an ihr gewirkt: bis etwa 1900 Pastor Wackermann, von da bis 1919, der Aufhebung der Pfarrstelle am damaligen Provinzial-Werkhaus, Pastor Werner Schaumann. Für sie wurde das Pastorenwohnhaus Einbecker Straße 12 erbaut, das heute von Beamten des Landeskrankenhauses bewohnt wird. Die Gottesdienste in der kleinen Kirche an der Waisenmauer werden seit 1919 von den Pastoren der Moringer Stadtkirchengemeinde und der katholischen Gemeinde, früher von Nörten aus, seit 1946 vom katholischen Pfarrer in Moringen gehalten, wie auch die Anstaltskirche bis zum Bau der St.-Ulrich-Kirche der neuen katholischen Gemeinde in Moringen zur Verfügung gestellt wurde.

Die Orgel in der Anstaltskirche ist die alte Hausorgel aus dem v. Münchhausenschen Herrenhaus. Der alte Freiherr hielt täglich für seine Familie und seine Angestellten eine Hausandacht, bei der einer seiner Söhne die Orgel spielen mußte. Die Plätze in der Kirche waren unten im Schiff für die männlichen Insassen, die auf der Empore für die weiblichen bestimmt, die getrennt zum Gottesdienst geführt wurden. Die Bank parallel zum Altar war der Familie des Direktors vorbehalten. Direktor Krack und Familie pflegten alljährlich die Christvesper am Heiligabend in der Anstaltskirche zu besuchen und mit den Insassen zu erleben.

Die Waisenmauer, die Mauer um den eigentlichen Waisenhauskomplex, ist mit der Anstalt zugleich erbaut und also über 200 Jahre alt. Gerade hier hat es im Laufe der letzten Jahrzehnte manche Wandlungen gegeben. Der Mauer gegenüber lagen früher verschiedene Bürgergärten, so der große Garten von Richard Falk mit den riesigen Birnenbäumen und dem wuchtigen Walnußbaum vor dem Anfang des Jahrhunderts zu einem Wohnhaus vergrößerten Gartenhaus. Die Provinz kaufte in den 30er Jahren diese Gärten auf. 1941 wurden bei Einrichtung des „Jugendschutzlagers“ hier bis zu 18 Baracken aufgestellt. Nach Kriegsende wurde dieser Komplex einschließlich der ganzen Anstaltsgebäude zu einem Ausländer-Auffanglager, das zeitweilig mit 2000 Personen belegt war. Die weitaus meisten Moringer haben in jenen Jahren keinen Schritt auf die Straße "An der Waisenmauer" getan. 1948 wurde das Lager aufgelöst und die Gebäude an das Land und seiner früheren Bestimmung zurückgegeben. Einzelne Baracken blieben bei der katastrophalen Wohnungsnot noch einige Jahre als Notunterkünfte stehen.

Dann aber wandelte sich das Bild an der Waisenmauer zum Besseren. Die Anstalt legte Gärten an und einen schönen Park; 1961 wurde der moderne Frauen-Pavillon gebaut, hinter der Mauer entstanden in den folgenden Jahren große, neuzeitliche Anbauten. - Die Waisenmauer selbst hat sich natürlich nicht 200 Jahre so tadellos erhalten, wie sie sich heute darbietet. Sie mußte öfter ausgebessert und erneuert werden. Doch ist ihr Charakter derselbe wie zu der Zeit, als sie das Waisenhaus umschloß, dass "unter die besten Waysenhäuser Deutschlands mit Recht gezählet" werden konnte.


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