Moringer Geschichte(n) - Moringer Familien

Nienhagen und seine Bewohner

Nienhagen und seine Bewohner
Von Lothar König
in "Der Heimatfreund" Nr. 18 und 19, August 1961

Dass auch hinter den Bergen Menschen wohnen, in unserem Fall in dem Weperdorf Nienhagen im Landkreis Northeim, hat Prof. Dr. Dr. Heinrich Sohnrey in seinem volkskundlichen und literarischem Werk bewiesen, indem er die Charakteristik und Mentalität der "stein"-reichen Bewohner Nienhagens in seinen verschiedensten Arbeiten aufzeichnete. Nienhagen, seine Geschichte und seine Bewohner sind darum keine unbekannten Begriffe in der Geschichte des Kreises Northeim. Und doch kommen wir erst in jüngster Zeit durch die Ergebnisse der historischen Hilfswissenschaft, der Genealogie, zu einem umfassenderen Gesamtbild des Landschaftstypus durch die Erforschung der Familien nach ihrem Ursprung und ihrer sozialen Stellung. Der Nienhäger tendiert in seiner Grundveranlagung zum Leinetaltyp, von wo auch die ersten Ansiedler vor 900 Jahren ausgezogen sein mögen, um die bewaldeten Höhen der Weper zu roden und zu kolonisieren.

Die Kraft des Menschenschlages dort aber assimilierte jegliche "Fremdkörper", d. h. Blut und Erbe fremder Zuwanderer aus Nachbardörfern werden derart aufgesogen, dass im 2. und 3. Glied nur die der Nienhäger Eigenart entsprechenden Anlagen verstärkt zum Ausdruck kommen. Sohnrey beschreibt: "Sie sind kraftvoll und bestimmt in Gestalt und Wesen, mit Festigkeit und Zuverlässigkeit, Klugheit und Offenheit, aber auch diplomatischer Verhaltenheit". Noch heute bewahren sich die Weperbauern eine gesunde Portion Zurückhaltung gegenüber allem, was aus der Welt an sie herangetragen wird. Wer mit ihnen "gut Freund" sein will, der muss beweisen, dass er sich in den Rhythmus ihres Dorfes einfügen kann und dort auch nur Mensch sein will, wie sie es sind.

Die erste urkundliche Erwähnung von Nienhagen geschieht 1519; 66 Jahre später werden uns die Familiennamen des Dorfes bekannt, von denen heute nur noch die Bierkamps in der 14. Generation blühen. Wir können sie mit Recht als die erste Familie bezeichnen, da sich ihr Stammbaum wie eine kräftige Eiche entwickelt hat, durch die Stürme toben und Äste brechen können, aber die Wurzeln nie aus der Heimaterde gerissen haben. Die namentliche Liste der Musterung von 1585 nennt außer den zwei wehrpflichtigen Bierkamps "mit Rohr und Hellebarde" noch weitere Familiennamen, die wohl aus Zuwanderern aus dem in der Fehde des 15. Jhdts. untergegangenem Dorf Krummel am Westhang der Weper, eine halbe Fußstunde von Nienhagen, sind (die Nienhäger werden in einem Prozess 1829 die "Krummelerben" genannt). 1664 aber, in dem nächsten Kopfsteuerverzeichnis finden wir keinen der alten Namen von 1585 mehr (außer den Bierkamps). Da um diese Zeit lückenlose Forschungen kaum möglich sind, ist die Frage nicht zu klären, ob die Krummelzuwanderer ganz ausstarben oder vermutlich im Töchterblut in Nienhagen weiterlebten, da die männlichen Krummeleinwohner ohnehin durch kriegerische Auseinandersetzungen damaliger Zeit stark dezimiert wurden. Zu den Familien, die heute noch in gerader Stammfolge (wenn auch nicht immer von Vater zu Sohn) über 250 Jahre auf Nienhäger Höfen festzustellen sind, gehören: Bierkamp Nr. 3 und 19; Herre Nr. 10 bis 1925; Spangenberg Nr. 27 bis 1944. Über 150 Jahre ansässig: Düvel Nr. 2; Herre Nr. 29; Fegebank Nr. 28; König Nr. 47.

Wir finden nun eine gewisse Beständigkeit von einigen Familien auf bestimmten Höfen und können auch die Versippung untereinander feststellen, so dass es teilweise nach Inzucht aussieht, es ist aber nicht zu den negativen Folge-Erscheinungen derselben kommt, da die natürlich ausgleichende frische Blutzufuhr das alte Blut stets verjüngt. Was in den Gruppenaufnahmen (Fotos der männlichen Dorfbewohner) von 1905, 1920, 1930, 1960 erkennbar ist, sind die Familienähnlichkeiten der Ahlborn, Bierkamp, Herre, König, Spangenberg und Wüstefeld, um nur einige zu nennen, denen aber auch deutlich der Stempel der Landschaft aufgedrückt ist und als Bewohner von Nienhagen ausweist.

Diese Aufnahme des von Heinrich Sohnrey gegründeten Gesangsvereins "Sängerlust" entstand im Jahre 1905 anläßlich des 25jährigen Stiftungsfestes. Dritter von links in der ersten Reihe (sitzend) der Gründer Heinrich Sohnrey.

Wer im norddeutschen Küstenraum die Spuren der Bierkamps verfolgt oder über die Frauen der Schoppes (bei den Kindern von Prof. Sohnrey und seiner aus Nienhagen stammenden Ehefrau Luise, geb. Schoppe, den Schoppe-Töchtern in Wuppertal, über die Hampes bei den von Ohlen, der kann auch hier, nach über 80jähriger Trennung von Nienhagen 1960 die äußerlichen Merkmale der Zugehörigkeit zum Landschaftstyp der Weper sehen.

Was die Herkunft der Familien betrifft, so gehören sie ihrem Namen nach in den niedersächsischen Raum, die Bürgerbücher des ausgehenden Mittelalters der Stadt Northeim nennen fast alle Namen, die später einmal in Nienhagen auftreten: Heeren = Herre, Konningk = König, Spangenberch (aus der hessischen Stadt Spangenberg nach Südhannover eingewandert) u. ä.

Zur Unterscheidung mehrerer Familien eines Namens bediente man sich der Zusätze wie Schuster, Schneider, Ritter (auf diesem Hof gab es einmal einen Besitzer Ritter, dessen Name im Volksmund an seinen Nachfolger Spangenberg mit überging), Boases (wohl von Boss = Hauptkerl), Wüstefeld am Steinweg.

Der Rückgang der Geburtenfreudigkeit ab 1900 und das Einkindsystem unserer Tage bewirken aber, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann einstmals große Familien in Nienhagen ausgelöscht sein werden, unter ihnen: Ahlborn, Böker, Düvel, Fegebank und Spangenberg.

Die Bewohner von Nienhagen bearbeiten in 33 landwirtschaftlichen Betrieben 478 ha. Liegenschaften. Nienhagen hat die geringste Bonitätsklasse im Landkreis Northeim, wovon steinreich im wörtlichen Sinne des steinigen Bodens der Weperabhänge und einige Flurnamen mit Beziehung zum kargen Boden sprechen. Reichtum hat es nicht gegeben und handwerkliche Betriebe genügten nur den dörflichen Erfordernissen. Einkommen aus Holz-Berechtigungen, Schafzucht bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts konnten nur minimal das Sozialeinkommen anheben. Die zunehmende Industriealisierung nach 1870 zog manche Nachgeborene der Hofbesitzer in die Fabriken der Umgebung, lockte aber auch manchen, der den väterlichen Hof nicht erbte, auf die damals noch übliche Handwerkswalze, von der sie aber meistens in das Heimatdorf zurückkehrten, sich mit den ersparten Lohngeldern ein kleines Anwesen kauften oder durch Einheirat als finanzkräftige Partien begehrenswert machten. Wir sind leider nicht in der Lage, durch fehlende übersichtliche Unterlagen, das Leben der nachgeborenen Kinder, die nicht als Hoferben in Frage kamen, zu verfolgen und statistisch darzustellen. Die geschilderten Verhältnisse beruhen auf Forschungsarbeiten, die der Verfasser für eine Dorfgeschichte zusammenstellte.

Die Größe der Höfe, die einen gewissen Schluß zur sozialen Stellung zulassen, sind 1756 mit zwei Dreiviertel-Cammer-Meierhöfen, zwei Großköthner, 20 Vollköthner, 5 Köthner und 2 Halbköthner ausgewiesen, wobei folgende Größenverhältnisse anzunehmen sind: Meierhöfe mit 50 Morgen und darüber; Groß- und Vollköthner zwischen 30 und 20 Morgen; Köthner bis zu 20 Morgen und Halbköthner 20 und weniger Morgen.

Zur besonderen Themastellung, die Entwicklung der Bevölkerung in Nienhagen in den letzten 110 Jahren, fehlen selbst für Einzeldarstellungen vergleichsmögliche Zahlen und Unterlagen. Wir können nur aus dem so vielschichtig zusammengetragenem Material mosaikhaft ein Bild zusammenzusetzen versuchen. Die Einwohnerzahlen bewegen sich zwischen 1821 und 1947 mit 273 und 198 (letztere als die niedrigste, wozu allerdings 192 Flüchtlinge und 28 Evakuierte am 23.10.1949 kamen), der Durchschnitt von 1821 - 1947 lag bei 17 Zählungen mit 263 Personen. Ein Bevölkerungsschwund läßt sich von 1858 mit der Höchstzahl von 323 Personen auf 198 im Jahre 1947 verfolgen. Im 1. Weltkrieg blieben 12 und im 2. Weltkrieg 16 Söhne (zumeist Hoferben) aus, an ihre Stelle rückten Geschwister und Blutsverwandte.

Im Jahre 1850 starben mehrere Personen an Cholera, was aber die Einwohnerzahl zwischen 1848 und 1858 nicht beeinflusste. Wir haben damals noch eine geburtenfreudige Zeit, in der 9 und 12 Kinder keine Seltenheit sind.

Was das Leben der Bauern um 1850 betrifft, so war es einfacher, schlichter, harmloser und entbehrte viele Dinge, die wir heute für notwendig erachten. Die Bekleidung bestand aus einem Gewebe von selbstgebautem und gewebtem Flachs und einheimischer Schafwolle. Für den Kirchgang und die Feiertage hatte man schon besondere Kleidung, deren Stoffe gekauft waren. Die Wohnverhältnisse waren bescheiden, wenn auch die Wohnhäuser festgefügt waren, der innere Putz bestand lediglich aus Lehm und Gips, Kartoffeln, Rüben und Hülsenfrüchte, die auf der Weper gut gediehen, standen hoch im Kurs. Das grobe Schrotbrot und die feinen Backwaren wurden noch bis zum 2. Weltkrieg in eigenen Backhäusern gebacken.

Bis zum Jahre 1850 mußten die reiheberechtigten Bürger von Nienhagen eine "Tegend" an den Hannoverschen Staat, eine Naturalsteuer in Form eines jeden 10. Bundes Getreide abliefern. Bei der Abschaffung derselben wurde bis 1884 eine Tegendrente in Bargeld erhoben. Die Domänenrenten, ehedem Hand- und Spanndienste an die Domäne in Moringen, liefen 1870 bzw. 1910 aus. Für die Bewohner Nienhagens eine finanzielle Belastung, die sich erst nach der Verkopplung von 1886 und dem Aufkommen der Kunstdüngung 1894 mit vermehrten Erträgen langsam abschwächte.

Ein anschauliches Bild der Verhältnisse der 1880er Jahre gibt Prof. Sohnrey in seinem Drama "Die Düwels" und seiner Erzählung "Verschworen - verloren", die beide Schauplätze in Nienhagen haben, wo Sohnrey von 1779 - 1885 als Junglehrer wirkte. Trotz der kärglichen Lebensumstände in Nienhagen vor 110 und mehr Jahren sind asoziale Auswüchse nicht in Erscheinung getreten. Wenn auch bei der Wilderertragöde, der der Jagdaufseher Götemann aus Oldenrode am 7.2.1828 zum Opfer fiel, 6 Personen aus Nienhagen beteiligt waren, von denen zwei, der aus Deliehausen gebürtige Schmiedegeselle Fr. Hildebrand und der Weißbinder Langheim am 20.09.1831 auf dem Galgenberg bei Moringen mit dem Schwerte hingerichtet wurden, so wird man im jugendlichen Alter aller Beteiligten mildernde Umstände suchen, denn vorsätzlich morden wollte wohl keiner von ihnen.

Die Unglückschronik gibt von 1850 - 1950 in Nienhagen 9 tödliche Unfälle an, für die gleiche Zeitspanne allerdings sind 12 Hausbrände zu verzeichnen, von denen es bei den meisten heißt: Entstehungsursache unbekannt. Aber das ist eine allgemeine Erscheinung im Solling, der Sohnrey ein Kapitel in "Die Sollinger" widmet.

Aus den Amtshandelsbüchern ist auch manches Soziologische Streiflicht zur Abrundung des Gesamteindrucks der Verhältnisse in Nienhagen zu entnehmen, so, dass es vor 110 Jahren oft noch üblich war, dass Frauen bei Unterschriftsleistungen des Schreibens nicht fähig waren und drei Kreuze als Handzeichen machten. Eine andere Eintragung besagt, dass am 28.5.1884 der Arbeiter Karl König, Sohn des Weiland Justus König, früher in Amerika, jetzt in Nienhagen wohnhaft, als Bräutigam der Friederike Hampe, kein Grundvermögen eintragen lassen konnte, "sondern nur bewegliches Gut ohne großen Wert". Er gehörte wahrscheinlich zu den nicht hoferbberechtigten Auswanderern der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die dem Goldrausch der Neuen Welt verfallen, dort aber nicht reich wurden und gebrochen an Leib und Seele in die Heimat zurückkehrten.

Nachhaltigen Einfluss auf das Leben in Gemeinde und Verwaltung nahmen Bürgermeister und Lehrer, von denen Sohnrey als Gründer des MGV "Sängerlust" den Grundstein zu einem, im Lied einigenden Dorfleben legte.

Betrachtet man rückschauend im Wellenschlag des Auf und Ab der Geschichte der letzten 110 Jahre, das Leben in Nienhagen, so lag im Wechsel von Schaffen und Genießen, von Freud und Leid, eine stetige Aufwärtsentwicklung. Man lebte zufrieden, diente Gott und dem Erbe der Väter.

Hoffen wir, dass mit neuem Blut in den alten Geschlechtern die Entwicklung in Zukunft durch friedliche Zeitläufe anhält.


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